Politik


Anarchie ist Herrschaftslosigkeit und nicht Chaos.


Ein optimistischer Blick in in das 21. Jahrhundert
oder
Endlich wird die Arbeit knapp

Ein Blick in die Zukunft? Nein, lieber nicht. Das Planen der eigenen Zukunft wird immer unmöglicher angesichts der schwierigen Arbeitsmarktlage und der Verlagerung großer Verantwortungsbereiche von der Gesellschaft auf das Individuum, das sich als Ich-AG und Manager des eigenen Humankapitals bei seinem Fallmanager rechtfertigen muss. Dieser Verantwortungsdruck und die ohnmächtige Ungewissheit lähmen den gestaltenden Blick in die Zukunft. Die vom Markt geforderte Flexibilität steht dem Wunsch und den Möglichkeiten zum Aufbau eines sozialen Umfeldes, einer Familie, als kleine Verkehrsinsel in der Rush-Hour, diametral entgegen. Statt Planung also eher ein sich Treiben lassen, Treiben in Trends und Drogen, populistischen Stammtischthesen und dubiosen Heilslehren. Ein rast- und haltloses Springen von Event-Party-Happening zu Event-Party-Happening, von Kick zu Tick, von Geiz zu Neid, Missgunst und Ausgrenzung. Schon der optimistische - oder wenigstens irgend ein Blick in die Zukunft des Einzelnen scheint Gedankenverschwendung. Wie also können wir uns die zukünftige Entwicklung einer Masse von resigniert treibenden, ziellos springenden und mit der Selbstverantwortung für nicht zu Verantwortendes überlasteten Individuen vorstellen, die zudem von sich selbst das Vertrauen entziehenden Menschen, die auf die Hilfe der sagenumwoben "unsichtbaren Hand" hoffen, nicht-geleitet werden?
In Hoffnungslosigkeit, Arbeitslosigkeit und Sinnvakuum kann viel passieren, auch das Wiedererstarken der Rechten, wie es in einigen europäischen Nachbarstaaten wie Frankreich, aber auch hier in Deutschland bereits sichtbar wird. In der Sorge um den Erhalt des Arbeitsplatzes, beziehungsweise in der Sorge um das Existenz sichernde Einkommen, wird die Schuld an dieser prekären Situation auf "Ausländer" projiziert. Einige wünschen sich einen Herrscher herbei, der "endlich Ordnung schaffen" soll. Sogar die Forderung nach Krieg als Lösung scheinbar unlösbarer Probleme habe ich in wenigen verzweifelten Fällen schon gehört. Da ich aber hoffe, dass bittere Erfahrungen nicht einfach vergessen werden, dass alle Menschen, die Einfluss auf andere ausüben können, aktiv gegen menschenverachtende, diktatorische und gewalttätige Tendenzen vorgehen, möchte ich hier ein anderes Zukunftsbild zeichnen.
Das bestimmende Element in diesem Bild ist, wie sich auch jetzt schon abzeichnet, die Arbeit. Arbeit hat Vorfahrt. Sozial ist, was Arbeit schafft. An der Arbeitslosenquote muss sich eine Regierung messen. Diese und andere Phrasen hören wir immer wieder. Wer Arbeit hat, muss dankbar sein und gnädig Lohnkürzungen in Kauf nehmen. Wer keine Arbeit hat, hat versagt, trägt die Beweislast und kann wahlweise hoffen oder aufgeben. Es geht um gesellschaftliche Anerkennung oder Ausschluss, bestenfalls Mitleid. Arbeit scheint heilig zu sein. Doch was ist das für ein Gott, der da angefleht wird? Ist Arbeit nicht das, was uns zur Strafe bei der Vertreibung aus dem Paradies auferlegt wurde? Im Schweiße deines Angesichts? Um dieses Schuften kämpfen wir nun? Wie bei dem Kinderspiel "Reise nach Jerusalem" rennen und drängeln viele Menschen um wenige freie Plätze. Es wird gepokert, geheuchelt und gemauschelt. Wer zu spät kommt fliegt raus. Gnadenlos. Wir wünschen Ihnen für Ihre berufliche Zukunft alles Gute. Mit freundlichen Grüßen. Warum erniedrigen wir uns, um Arbeit zu bekommen? Wegen des Geldes.
Wegen des Lohns brauchen wir Arbeit. Tätigkeiten, die getan werden sollten wie das Besuchen kranker Verwandter, und Tätigkeiten, die gerne getan werden würden wie das Lesen eines guten Buches, gibt es viele. Unendlich viele. So viele, dass alle etwas zu tun haben, etwas, das sie erfreut, mit Sinn erfüllt und das nützlich für die Gemeinschaft ist. Aber Arbeit, die finanziellen Lohn erbringt, wird knapp. Da nur im Sinne des globalen Marktes rentable Tätigkeiten als Lohnarbeit bestehen können, zerfallen alte Handwerkskünste, alte Gemäuer und alte Menschen. Damit Rentables noch rentabler wird, wird moderne Technik eingesetzt, die vieles schneller und besser als menschliche Arbeitskraft erledigen kann.
Und das ist auch gut so. Denn die Zukunft ermöglicht es uns, mit immer weniger Mühen, immer mehr zu erreichen. Wir müssen keinen ganzen Tag mehr harte körperliche Arbeit verrichten, um die Familie vor dem Hungertod zu bewahren. Dank maschineller Unterstützung könnten zwei bis drei Tage pro Woche genügen. Die restliche Zeit ist frei zum Lesen eines guten Buches, zum Besuch von Verwandten, zum Forschen nach weiteren Möglichkeiten zur Minimierung der nötigen Arbeit. Doch diese Gedanken scheinen noch fern in Anbetracht der (all-)gegenwärtigen Arbeitsverherrlichung.
Gehen wir also noch einmal einen Schritt zurück. Zwei Lager stehen sich gegenüber. Auf der einen Seite das Lager der arbeitenden Bevölkerung, das genug Geld, aber, dank zahlloser Überstunden, keine Zeit und nach der täglichen Schufterei auch keine Muße mehr hat, das Leben zu genießen. Auf der anderen Seite das Lager der Arbeitslosen, die zwar Zeit haben, das Leben zu genießen, aber nicht die finanziellen Möglichkeiten und, aufgrund ihrer gesellschaftlichen Isolation, auch nicht die Muße. Beiden Lagern ist also gemeinsam, dass sie keine Aussicht haben auf das, was das Leben lebenswert erscheinen lässt. Und beiden ist gemeinsam, dass sie durch diese Bedingungen vereinsamt sind, dass sie im Kampf um Arbeit, als selbständige, eigenverantwortliche Arbeitskraftunternehmer, auch zu inneren, psychischen Ich-AGs geworden sind. Nur durch Aufputschmittel oder Drogenkonsum halten sie das Wrack der eigen Maschine am Laufen.
Was wird nun geschehen? Werden sich These und Antithese, Arbeiter und Arbeitsloser, in der Synthese, in der Vereinigung ihres gemeinsamen Potentials auf einer höheren Ebene, zu etwas lebenswerterem auflösen? Gerade in Ost-Deutschland könnte dies geschehen. Dort sind die Menschen mit gesellschaftlichen Veränderungen ebenso vertraut wie mit der Notwendigkeit und der in vielerlei Hinsicht Nützlichkeit des Durchbrechens der Isolation, der gegenseitigen Hilfe. In Zeiten wegbrechender staatlicher Sozialnetze, beginnen die Menschen zu erkennen, dass neue Netze gesponnen werden müssen. Dass soziale Kontakte aus der inneren Ich-AG befreien, neue Impulse liefern. In der Not-macht-erfinderisch-Manier, die in ostdeutschen Gemütern noch aus Zeiten der Planwirtschaft tief verankert ist, werden ökonomische Gemeinschaften gebildet und Kompetenzen ausgetauscht. Die gemeinsam genutzte Küche spart Ressourcen, Geld, Zeit, die zuvor für das Kochen von Ein-Personen-Mahlzeiten nötig war, und fördert das soziale Miteinander. Auch an günstigem Wohnraum für solche Experimente fehlt es in Ost-Deutschland nicht.
Die Menschen werden erkennen, dass mit immer dichter werdenden selbst gebauten sozialen Netzen weniger finanzielle Mittel für ein erfülltes Leben nötig sind. Gemeinsames Wirtschaften ist effizienter, vielfältige Kontakte ermöglichen neue, bisher unbekannte Einsparpotentiale und das Durchbrechen der Isolation hilft originäre Bedürfnisse zu befriedigen, anstatt sie in kostenintensiven Ersatzbefriedigungen zu ersticken.
Angesichts dieser Perspektiven, die zunächst von Teilen der nichtarbeitenden Bevölkerung entdeckt werden, wird auch das arbeitende Lager erkennen, dass Geld alleine nicht glücklich macht, und sich in die Netzwerke einbringen um noch viel mehr an Lebensgefühl wieder daraus zurück zu bekommen. Hier werden sich die beiden Lager begegnen. Sich gegenüberstehen und die vielen Vorurteile, die durch die Vergötterung der Arbeit entstanden sind, abbauen müssen. Menschen, die keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben sind nicht faul oder unfähig. Oft haben sie im alltäglichen Leben mehr Erfahrung und wichtige Fähigkeiten als hochspezialisierte Facharbeiter, die 48 Stunden pro Woche abstrakte Tätigkeiten verrichten. Menschen, die sich auf dem Arbeitsmarkt durchsetzen konnten, denken nicht nur ökonomisch, logisch und skrupellos, sondern, wenn es nicht gerade geschäftliche Interessen berührt, auch mal menschlich. Friede, Freude, Eierkuchen? Warum sollten sich Menschen zusammenschließen und gegenseitig helfen? Widerspricht das nicht ihrer kämpferischen Natur? Sind Menschen nicht für den Wettbewerb geboren? Ist nicht die freie Marktwirtschaft der natürliche Lebensraum des homo sapiens? Ist nicht die Konkurrenz der Motor des Fortschritts?
Nun, von welchem Fortschritt und von welcher Zukunft reden wir eigentlich? Die Zukunft der Wirtschaft oder die der Menschen? Schon viel zu weit hat der Mensch die Zügel über sein Leben in die Hand der Wirtschaftsmaschinerie gegeben. Die Politik hat beinahe jeden Gestaltungsspielraum verloren. Die Gesetze des Marktes erregen mehr Furcht als die des Staates. Wer nicht funktioniert muss sich dem Markt beugen. Weltweit. Weltweit bestimmen abstrakte Kapitalströme das Leben, oder vielmehr das Leiden, zahlloser Menschen. Weil sich Antifaltencreme für die Industrieländer mehr rentiert als AIDS-Medikamente für Afrika, weil Gebrauchsgegenstände nicht haltbar, sondern nach kurzer Zeit verschlissen oder out sein sollen, um den Konsum am Laufen zu halten, weil Rinder für unsere Hamburger mit dem Mais gemästet werden, der zahlreiche Menschen ernähren könnte. Mit dem heutigen Stand der Wissenschaft müsste es nicht mehr nötig sein, dass Menschen ums nackte Überleben kämpfen. Und wenn dies nicht mehr nötig ist, sollte der Mensch als denkendes Wesen in der Lage sein, sich von seinem Egoismus- und Konkurrenz-Trieb zu befreien und die Widersinnigkeit und Lebensfeindlichkeit der derzeitigen alles dominierenden Wirtschaftsordnung zu erkennen. Oder ist das zu viel verlangt?
Tatsächlich formieren sich immer größere Widerstände gegen diese Ordnung, "Globalisierungsgegner" gehen auf die Straße und Linksbündnisse vereinigen sich gegen den Sozialabbau.
Und all dies, alle gestaltende und nicht treibende Veränderung ist nur möglich, wenn Menschen trotz des jetzigen erdrückenden, gefühlten Zwangs zur Lohnarbeit die Muße haben, ein wenig über die heutige Situation und die Zukunft nachzudenken. Nur dadurch, dass die Arbeit endlich knapp wird.
Juli 2005
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